Feuilleton

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Ein Budapester Roman

Von Ernst Goth.

Es gibt heute ein Romanthema, so überreich an Gestalten, Schicksalen und Bildern, so erfüllt von phantastischer Realistik, von bitterbösem Humor und grotesk verzerrter Tragik, dabei so neu, so unwahrscheinlich originell, wie es auch die größten Romanciers nur alle hundert Jahre einmal zu erraffen wissen. Allein dieses Thema bleibt ungenützt, weil es scheinbar unter den wenigen, die es bewältigen könnten, keinen großen Romancier gibt. Es heißt: Budapest. Das Leben, das Werden und Wachsen dieser merkwürdigen, jüngsten – doch schon dekadenten – aller europäischen Metropolen, dieser seltsamen Mischung aus Chicago und Kecskemét, in der ein ungeheurer Lebenshunger und Genußappetit sich mit orientalisch sorgloser Lässigkeit paart, wo mittelalterlich feudale Anschauungen mit utopistischem Zukunftsglauben, die unerhörtesten Ideengefilde hervorbringen, die Stadt, in der jegliches Tun und Wollen mit Politik infiziert ist, wo der Kampf ums Brot am härtesten, aber der Leichtsinn am regsten ist, die Stadt, die, an Talenten reich gesegnet, doch alles Kulturmaterial importiert, um es sofort nach ganz besonderen, unbegreiflichen Gesetzen zu verarbeiten oder zu verfälschen, die Stadt, in der höchstes Raffinement und brutalste Urinstinkte ganz nahe beieinander hausen – – diese Stadt, die Karrieren, Lebensgeschichte, Liebeshändel und Alltagstypen, die nur sie gebiert, dies alles müßte einmal in einem weitausholenden Roman künstlerisch gestaltet werden. Aus diesem Buch, in dem alle bekannten Stimmen unserer Zeit erklingen würden, und das dennoch voller Überraschungen wäre, aus diesem Buch erhielte der Fernerstehende zum ersten Male eine Ahnung des heutigen Ungarns, das ja im Grunde ein Kaum gekanntes Land ist, in das der eine noch romantische Lektüreerinnerungen aus Jókai und Lenau hineinträgt, während der andere geneigt ist, es durchaus zu Westeuropa zu zählen…. Aber dieses Buch wird nicht geschrieben. Mehr als einer unserer Begabtesten versuchte es. Jedem fehlte es an der Fähigkeit zu großer Konzeption. Sie blieben im Detail stecken, zeichneten oft mit prächtig scharfem Auge und Verstehen da ein Eckchen, dort ein Fleckchen dieser Stadt – sie selbst blieb irgendwo im Hintergrund. Denken wir an Molnárs Hungrige Stadt, die nächstens in deutscher Sprache die gehässig-falschen Vorstellungen von Budapest mehren helfen wird. Denn dieser Roman eines ganz Jungen zeigt mit hämisch boshafter Übertreibung nur die wilde Geldjagd, den skrupellosen Bereicherungswillen, der in Budapest so viele korrumpiert. Indessen – ist dies schon Budapest? Ist es auch nur ein Symbol der Stadt? Oder erinnern wir uns an Thomas Kóbors Roman Budapest. Da gab es aufschlußreiche Einblicke in eine Kleinbürgerfamilie, deren eine Tochter Lebedame geworden war, man sah flüchtig in Nachtcafés, in versteckte Liebesnester im Hintertrakt eleganter Modesalons, und man erfuhr auch einiges über die Lebenssphäre und Allüren einer hohen Beamtenfamilie. Hier war der Rahmen schon weiter gezogen. Doch was er endlich umspannte, waren doch wieder nur Einzelheiten, Beiträge, Material zu dem erst zu schreibenden Roman, der den Titel Budapest wirklich verdienen sollte.

Zu jenen, von denen man dieses Buch erwarten durfte – es sind ihrer recht wenige –, gehört seit kurzer Zeit ein Schriftsteller, in dessen Büchern man alle Qualitäten dazu vorfand. Vor allem war zu merken: er kannte diese Stadt wie nicht viele, und er verstand sie wie keiner vor ihm. Er wußte um ihre geheimsten Dinge, empfand ihren Lebensrhythmus im eigenen Blut, liebte ihre Schönheiten und ihre Schändlichkeiten mit der gleichen Liebe des Zugehörigen, mit einer Liebe, die ein wenig zornig und ein wenig ironisch grundiert war, und er hätte keines diable boiteux bedurft, der die Dächer von den Häusern hebt, denn er wußte auch ohne ihn, was unter diesen Dächern gedacht, gesprochen, geführt, geplant, gelitten wurde. Und dann: er war nicht boshaft und nicht moralisierend, sondern er hatte ein Herz für jegliches Menschengeschick und er war überdies ein Künstler, der es verstand, Menschen zu gestalten, ihr Leben und Sein so in knappe Worte, in scharfumrissene Bildchen zu drängen, daß man mit einem Male dieses ganze Leben kannte, den Weg überblickte, den sie zurückgelegt hatten, und ihre Zukunft zu ahnen vermochte. Dieser Schriftsteller, der sich so als Dichter entpuppte, heißt Julius Krudy und wiewohl er in seinen liebenswerten Büchern von der Jugend und den Fahrten Sinbads gern im nördlichen Karpathenland seiner Kindheit und seiner ersten Abenteuer verweilte und nur manchmal in kleineren Arbeiten die Hauptstadt aufsuchte – auch hier meist das rechte Ufer, das halb noch Provinz, verträumte Kleinstadt ist –, so sah man doch bald, daß hier einer jene schöpferischen Kräfte übte, mit denen das Ungarn, das Budapest unserer Tage künstlerisch zu formen war. Und da Krudy jüngst einen Budapester Roman ankündigte, durften die Erwartungen in die Höhe schnellen. Für diesmal hat er sie freilich nicht befriedigt, doch auch nicht enttäuscht. Der Budapester Roman wurde auch jetzt nicht geschrieben. Aber ein Budapester Roman, der doch mehr vom Wesen dieser Stadt und ihrer Menschen einfängt, ihre Besonderheit stärker fühlbar macht als irgendein anderer. Er heißt Die rote Postkutsche.*

Was an diesem Buch vor allem erfreut und fesselt, ist sein Stil, seine Sprache, die überall literarisches Niveau bewahren, dabei aber von stärkstem, realistischem Lokalkolorit sind. Kein Satz ist da, der anderwärts so geformt, so gesagt werden könnte. Selbst die rein deskriptiven Stellen sind ganz mit budapesterischer Sprech- und Denkweise getränkt, ganz aus der Erinnerung des Ohres herausgeschrieben, voll mit Anklängen an die Ausdrucksweise der Cafés, der Vorstadtstammtische, erfüllt von der zynisch-saloppen Art, die hier oft als Überlegenheit gilt, von der frivolen Ungeniertheit, die biedere Offenherzigkeit vortäuschen soll. Für derartige sprachliche Details und Finessen, die aber von der stärksten Charakterisierungskraft sind, hat Krudy von jeher die wachsten Sinne. Da sind gleich zu Beginn zwei Schauspielerinnen, die engagementlos aus der Provinz in die Metropole kamen. Von ihren bisherigen Erlebnissen ist nichts gesagt. Doch allein die Art, wie diese Mädchen bald über das Theater, bald über die Männer sprechen, naiv, aber mit angeflogenen Phrasen aus dem Metier, aus der Liebesterminologie kleiner Schmieren, mit halb unbewußtem Zitieren aus sentimentalen Romanen, die sie gelesen, aus heroischen Stücken, die sie gespielt – diese Art der Konversation gibt ihnen prachtvolle Plastik und Lebensechtheit. Man meint ihnen erst unlängst auf der Straße begegnet zu sein – wie man übrigens vielen Gestalten dieses Romans wirklich täglich begegnet. Denn Krudy setzt seiner Lokalfarbe besonders helle Lichter auf, indem er eine ganze Anzahl von Personen – Schauspieler, Schriftsteller, Politiker –, die mit der Romanhandlung nichts zu tun haben, beim richtigen vollen Namen nennt, bloß um Zeit und Milieu ganz kräftig zu bestimmen; ein zuerst verblüffender Trick, der späterhin nicht ganz erst wirkt. Um aber zu den genannten Damen zurückzukehren: beide leben, was die Liebe anbelangt, mehr in Wünschen und Träumen als in der Wirklichkeit. Sie sind als eifrige Leserinnen rührender Familienblattromane davon durchdrungen, daß die Männer von heute nichts wert sind, daß keiner von ihnen so schön, so edel, so mutig und so reicht ist, wie es doch der Mann sein muß, in den man sich sterblich verliebt, und es ist sehr begreiflich, daß namentlich die eine von ihnen ihre Ruhe verliert, als sie eines Tages einer roten Mailcoach begegnet, in deren Fond ein blasser, gepflegter Herr mit müden Augen sitzt – Herr Eduard v. Alvinczy, wie sie bald erfährt, ein Mann vom Nimbus hunderter Legenden und Geheimnisse umwoben, ein Mann, der ganz, ganz anders ist als alle, die sie jemals gesehen. Ein gefälliger Journalist, der ihm Sekretärdienste leistet, weiß vieles von ihm zu erzählen: Eduard v. Alvinczy, dessen Adel so alt ist, daß man zweifellos nur ihm zum König wählen könnte, wenn die Nation wieder einmal zu diesem Zweck auf dem Rákosfelde zusammenträte, war früher einmal Diplomat, brachte Millionen in Liebesaffären an, hatte Duelle und kam endlich, des wilden Lebens müde, nach Budapest, wo er nun als erster Kavalier des Landes lebt, ungeheuer exklusiv, ungeheuer kostspielig, doch ohne großen sichtbaren Aufwand – seine Zigarren werden nur für ihn in Kuba hergestellt und beim Mittagessen wechselt er täglich einen Tausender – für die ganze Stadt das romantische Ideal des Grandseigneurs, zu dem alle Welt mit scheuer Ehrfurcht und Bewunderung aufblickt, vorwiegend wohl deshalb, weil kein Mensch weiß, woher das viele, mit größter Nonchalance vergeudete Geld stammt. Der Weg, den nun Klara Horváth einschlägt, um diesem Mann, in dem sich alle Helden und Abenteurer ihrer Phantasie vereinigen, näher zu treten, ist auch der Weg, auf dem mit vielen Abzweigungen und Aufenthalten die Handlung vorwärtsschreitet. Zwei Höhepunkte sind zu verzeichnen: zuerst das Gastmahl bei Mme. Louise, an dem Klara teilnimmt, weil Alvinczy sein Erscheinen zugesagt hat. Das Urbild dieser Madame Louise ist älteren Festern noch wohlbekannt. Jüngere Lebemänner bedauern, zu spät geboren zu sein, um im Salon dieser letzten grande amoureuse verkehren zu können. Es war dies vielleicht auch der letzte wirkliche Salon Budapests. Minister, Generale, Sportsleute, Künstler, Schriftsteller trafen hier zusammen – allerdings ohne ihre Damen. Denn die meisten der Gäste hatten irgendeinmal mit der Hausfrau nähere als bloß gesellschaftliche Beziehungen gepflogen. Hier sieht nun Klara ihren „Fürsten” wieder. Der aber kümmert sich nicht um sie. Nun ist sie bereits ernstlich verliebt und zu allem entschlossen. Zwischendurch wird es Frühling und Sommer, man spielt bei Feld und Krecsányi, allerlei wintersüber versteckte Zärtlichkeit wagt sich allabendlich in die Weinschenken jenseits des Tunnels hinaus – der Budapester Sommer hat noch keine kundigeren und amüsanteren Chroniqueur gefunden als Krudy. Jeder Leser, sofern er hier aufgewachsen, findet in mehr als einem Kapitel ein Stück seiner Jugendbiographie. Dort, wo in lauen und hellen Ofner Nächten Zigeunergeigen klingen und Bläser zerschellen, wo unglücklich Liebende verstört durch die Straßen des Tabans irren, wo wir in die stillen Häuser und Höfe der Festung blicken, in denen wohlbehütete Mädchen kommenden Sommernächten entgegenträumen – überall dort ist dieses Buch ein prächtig dichterisches Dokument dieser Stadt. Nur die Ereignisse auf dem linken Ufer zerfallen auch hier in Episoden, die sich zu keinem Ganzen zusammenschließen. Vielerlei Bilder und Gestalten ziehen vorbei. Die große Epoche des beginnenden Nachtlebens rauscht auf – Cäcilie Carola schwingt die Fahne des „Frauenbataillons” – der großen Operettenepoche wird gedacht – der Applauskämpfe zwischen den Parteien „Hegyi Aranka” und „Pálmai” – – bis dann der Faden der Erzählung wieder aufgenommen wird und zu seltenen Einblicken in abseitige Gebiete leitet. Klara trifft ihre Jugendfreundin Estella. Die ist eine elegante Dame geworden und macht auch aus den Quellen dieser Eleganz kein Hehl: sie besucht das Haus der „Mama Stein”. Auch dies ist ein Haus, wie es so nur in Budapest anzutreffen ist. Ein Haus der flüchtigen Liebesbeziehungen, die Mama Stein zu entsprechenden Preisen inszeniert. Und Klara hört, daß auch Alvinczy manchmal dorthin kommt. Ihr Entschluß ist rasch gefaßt. So schwer es ihr wird, sie besucht eines Nachts Mama Stein. Die Schilderung dieser Stunden – die Klara nur eine neuerliche Enttäuschung bringen – ist der zweite Höhepunkt des Krudyschen Romans. Dieses Kapitel war nur um den Preis vieler verlorener Nächte zu schreiben. Das Haus der Mama Stein – welch ein Hafen für hundert verirrte Treibe, beschmutzte Sehnsucht, für gemeine Luft und reines hilfloses Liebesverlangen! Wüste Geilheit und verzweifeltes Selbstvergessen, krankhafte Perversionen, versteckte Tragik, Jammer aller Art bricht hier aus, giert hier, aller Fesseln der Sitte und Konvention ledig, nach Freude, nach Trost, nach Geld. Der Ekel und die Angst treiben Klara hinaus, ohne daß sie Alvinczy gesehen hätte. Sie sieht ihn auch fernerhin nicht, sie ist nun fast geneigt, den kleinen, verkommenen Zeilenschinder zu erhören, der sich ihrethalben das Leben nehmen wollte. Dann aber lockt aufs neue die Bühne, sie kehrt in die Provinz zurück… Das Ende der Romanhandlung ist so wenig belangvoll wie ihr Verlauf. Sie ist ohnehin nur ein geschickter Vorwand, uns da und dorthin nach Stätten und zu Menschen zu geleiten, wo das Leben dieser Stadt seinen eigenen traurig-tollen Gang geht. Und es sind einzelne Seiten, ganze Kapitel, dann unzählige Beobachtungen, Anmerkungen da, die auch in jenem großen Roman, der einst „Budapest” fassen, gestalten, spiegeln, ja entdecken wird, nicht besser sein können. Warten wir also weiter, bis er geschrieben wird.

 


* „A vörös postakocsi.” Írta Krudy Gyula, Budapest, 1913. Singer és Wolfner.

 

(Pester Lloyd, 1913/211. /szeptember 16./ 1-2. p.)